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Vom Zwang, sich die Haare auszureißen – Trichotillomanie (1)

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Mädchen mit Haaren

Trichotillomanie: Wenn gesund aussehendes Haar zur Nebensache wird © Petras Gagilas under cc

Wenn Sabine S.* Überforderung, Angst oder Anspannung fühlt, beginnt sie sich einzelne Kopfhaare auszureißen. Sie zieht ein Haar heraus, umspielt es mit ihren Fingern und beißt die Haarwurzel ab, um diese zu essen. Im Anschluss tastet sie nach einem weiteren Haar und verfährt in gleicher Weise.
Trichotillomanie, der Zwang, sich die Haare auszureißen, hat viele Facetten – eine davon soll in diesem Interview vorgestellt werden.

Trichotillomanie – Ein Fallbeispiel

Sabine S. ist 42 Jahre alt. Sie ist Sachbearbeiterin, geschieden und hat zwei Kinder.

Sabine, können Sie eine klassische Situation schildern, bei welcher es bei Ihnen zum Haare ausreißen kommt? Welche Empfindungen verspüren Sie dabei?

Solche Situationen kommen bei einem Alltag mit zwei Kindern fast täglich vor. Ich fühle mich oft überfordert und habe das Gefühl, meinen Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Meistens sitze ich abends, wenn die Kinder im Bett sind, auf dem Sofa. Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Ich kann nicht anders abschalten. Mir die Haare auszureißen, beruhigt mich. Ich mag das Gefühl, mit der Haarwurzel über die Lippen zu streichen, bevor ich die Wurzel dann abknabbere. Mittlerweile, nach fast dreißig Jahren eines Lebens mit Trich, bin ich geübt darin, mir nicht zu viele Haare an einer Stelle auszureißen, um kahle Stellen möglichst zu vermeiden bzw. Stellen zu nehmen, die verdeckt werden können. Meistens mache ich das mit der linken Hand. Das ist irgendwie automatisch. Ich muss mich richtig daran erinnern, auch die rechte zu nehmen, damit es nicht zu viele rausgerissene Haare auf einer Seite werden. Es ist entspannend für mich, das zu tun. Die Anspannung fällt dann von mir ab. Im Schnitt reiße ich mir fünfzehn, manchmal zwanzig Haare täglich aus. Manchmal habe ich danach Schuldgefühle.

Gab es damals spezielle Umstände, als das Haare ausreißen begonnen hat? Können Sie sich an Auslöser erinnern?

Anfangs habe ich es gar nicht bewusst gemacht. Häufig, wenn ich am Schreibtisch saß und Hausaufgaben gemacht habe. Nervös war ich schon immer. Ich habe oft an den Nägeln gekaut und mir irgendwann halt begonnen, die Haare auszureißen. Es hat sich so natürlich angefühlt, als sollte es so sein. Ich weiß nicht, wann es sich verselbstständigt hat. Irgendwann konnte ich nicht mehr anders. Meine Mutter war zwar besorgt, als sie die kahlen Stellen sah. Aber sie war noch viel mehr darüber besorgt, was die Lehrer wohl denken würden. Meine Schulkameraden haben begonnen, mich zu hänseln, aber das war dann auch egal.

Wenn Sie sich an Ihre Kindheit erinnern, wie würden Sie diese im Großen und Ganzen beschreiben?

verfallenes Haus

Trichotillomanie: Hinter bröckelnder Fassade steckt oft auch eine leidende Psyche © Uwe Kaufmann under cc

So wirklich Tolles kommt mir da nicht in den Sinn. Ein Vater, der abgehauen ist, als ich auf dem Weg war, erwachsen zu werden. Eine Mutter, die ständig fahrig war und immer wollte, dass ich gut in der Schule bin, um mich nicht von Männern abhängig zu machen, die aber selbst danach ständig wechselnde Partner hatte. Ich habe immer ein Meerschweinchen als Haustier gewollt, sollte aber erst einmal Fische pflegen, um zu beweisen, dass ich die Verantwortung für ein Haustier übernehmen könnte. Meinen Vater habe ich kaum noch gesehen, nachdem er ausgezogen war. Er hatte eine neue Frau und neue Kinder. In sein neues Leben habe ich nicht gepasst.

Würden Sie sagen, dass diese Kindheitserfahrungen eventuell beim Entstehen der Trichotillomanie eine Rolle gespielt haben könnten?

Möglich ja. Aber das überlasse ich Euch Psychologen. Therapien, die ich angefangen habe, haben mich zwar nicht überzeugt. Die Trich gilt ja wohl als gut heilbar, hat mir eine Psychologin gesagt. Ich weiß nicht, vielleicht bin ich ein besonders schwerer Fall, mal wieder. Die Jahre zuvor hat es mich auch nicht wirklich gestört, dass ich das gemacht habe, da ich mit der Zeit gelernt hatte, es gut zu kaschieren. Sicher, die Haare wirken immer dünner und wachsen auch nicht mehr so gut nach. Wer weiß, vielleicht habe ich mich deshalb in einem Forum angemeldet. Um Gleichgesinnte zu suchen. Die angefangenen Therapien fand ich nicht sinnvoll. Der Austausch mit Betroffenen gibt mir da schon mehr. Ich versuche sogar, einige Tipps umzusetzen. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um es anzugehen.

Welche Tipps bzw. Strategien wären das zum Beispiel?

Sport, an was anderes denken, Autogenes Training. Aber ich stehe noch am Anfang. Und wer weiß, ob ich es hinkriege.

Wie sieht Ihr derzeitiges Leben aus? Sind Sie in einer Partnerschaft? Zufrieden mit Ihrem Job?

Manchmal habe ich das Gefühl, angekommen zu sein. Ich denke das ganz vorsichtig, weil ich Angst habe, es könnte jederzeit wieder vorbei sein. Blicke ich zurück, sehe ich in meinem Leben eigentlich nur Überforderung und Hektik. Meine Schulabschlussprüfungen hätte ich aus Angst und Druck fast nicht geschafft. Studieren wollte ich nicht. Mein Job ist recht alltäglich, manchmal sogar langweilig, aber für was anderes bin ich wohl nicht geschaffen. Meine Kinder gehen zur Schule. Die Große hat bisher keine Probleme, aber der Kleine ist ziemlich wild. Vor kurzer Zeit habe ich jemanden kennengelernt, über das Internet. Wir wohnen nicht zusammen und sehen uns auch nur an einigen Wochenenden, aber er gibt mir irgendwie das Gefühl, hinter mir zu stehen. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich angenommen. Die Väter meiner zwei Kinder und auch andere Männer in meinem Leben haben mir dieses Gefühl nicht geben können. Vielleicht habe ich dadurch endlich die Kraft, um die Trich richtig anzugehen.

Danke für das Interview! Alles Gute für Sie und Ihre Familie!

In den nächsten zwei Teilen unserer Artikelserie zum Thema „Trichotillomanie“ wird die klinisch-psychologische Sichtweise betrachtet, zudem werden mögliche Ursachen und therapeutische Ansätze vorgestellt.

*Name von der Redaktion geändert

Vom Zwang, sich die Haare auszureißen – Trichotillomanie (1), geschrieben von Juliane und publiziert im Psychologie Online-Magazin - psyheu.de


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